„Schicksalsverwandtschaft“?: Jean Amérys Fanon-Lektüren über Gewalt, Gegengewalt und Tod

Im Mittelpunkt des Beitrags steht eine ideengeschichtliche Analyse der Rezeption von Frantz Fanons (1925–1961) antikolonialen Schriften durch den Auschwitz-Überlebenden Jean Améry (1912–1978). Damit wird der Text zu einem Diskussionsbeitrag in der historischen Auseinandersetzung über Parallelen und...

Description complète

Enregistré dans:  
Détails bibliographiques
Auteur principal: Fiedler, Lutz (Auteur)
Type de support: Électronique Article
Langue:Allemand
Vérifier la disponibilité: HBZ Gateway
Journals Online & Print:
En cours de chargement...
Fernleihe:Fernleihe für die Fachinformationsdienste
Publié: De Gruyter 2017
Dans: Naharaim
Année: 2017, Volume: 11, Numéro: 1/2, Pages: 133-165
Sujets non-standardisés:B Holocaust-Gedächtnis Geschichte und Theorie der Gewalt Antiimpérialisme Genocide-Studies Améry Jean Fanon Frantz
Accès en ligne: Volltext (Verlag)
Description
Résumé:Im Mittelpunkt des Beitrags steht eine ideengeschichtliche Analyse der Rezeption von Frantz Fanons (1925–1961) antikolonialen Schriften durch den Auschwitz-Überlebenden Jean Améry (1912–1978). Damit wird der Text zu einem Diskussionsbeitrag in der historischen Auseinandersetzung über Parallelen und Differenzen bei der Verarbeitung und intellektuellen Reflexion von Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Judenvernichtung. Améry selbst scheint mit seinem Wort von der „Schicksalsverwandtschaft“ zwischen ihm und Fanon einer postkolonial inspirierten Genozidforschung den Weg bereitet zu haben, die die Gewaltverhältnisse in der außereuropäischen Expansion historiografisch und darstellerisch an die Ermordung der europäischen Juden heranrückte. Demgegenüber wird im Text argumentiert, dass eine solche Deutung ursprünglich auf das Werk von Fanon und dessen Lehrer Aimé Césaire zurückgeht und Ausdruck einer partikularen Geschichtserfahrung in Zeiten einer kolonialen Zweiteilung der Welt war. Dass auch Jean Améry an die Geschichtsperspektive Fanons anschließen konnte, war wiederum durch den universalistischen Erwartungshorizont in Fanons Darstellung möglich geworden. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass Amérys doppelte Erfahrung als politisches und jüdisches Opfer des Nationalsozialismus ihren Niederschlag auch in dessen Texten gefunden hat: als wiederkehrendes Motiv einer Überschreibung der von der Vernichtung auferlegten jüdischen Opferschaft durch die Sinnstiftung des politischen Widerständlers. Auf der Grundlage von Sartres existenzialistischer Philosophie erkannte Améry in Fanons Geschichtsphilosophie revolutionärer Gewalt einen universalistischen Handlungs- und Erwartungshorizont, den er nun auch seinen Darstellungen über den jüdischen Widerstand während des Nationalsozialismus einschreiben wollte. Umso mehr sich Améry jedoch dem Holocaust – dem ultimativen Genozid, der auf alle Juden überall zielte – näherte, desto deutlicher verschloss sich eine solche Perspektive und zerbarst seine Analogie mit Fanon. Als Überlebender von Auschwitz sah er sich allein auf sein Judesein und seine partikulare Zugehörigkeit zurückgeworfen. So verdeutlicht Amérys widersprüchliche Rezeption von Fanon, inwiefern eine Engführung der Erfahrungen von Massengewalt im 20. Jahrhundert zwar das Potenzial einer empathischen Bezugnahme barg, an den materiellen Realitäten jeweils unterschiedlicher Gewalt- und Todeserfahrungen aber zerbrochen war.
ISSN:1862-9156
Contient:In: Naharaim
Persistent identifiers:DOI: 10.1515/naha-2017-0007